Januar 2025 | Im Thurgau herrscht Lehrstellenüberschuss: Jeder fünfte Ausbildungsplatz blieb im letzten Sommer unbesetzt. Wie schaffen es Unternehmen, junge Leute für ihre Ausbildungsplätze zu begeistern? Die TKB-Firmenkundenumfrage zeigt: Im Wettbewerb um Auszubildende spielt der Lohn eine untergeordnete Rolle.
Vielleicht trifft es «aus der Not eine Tugend machen» am besten: Derzeit suchen neun von zehn Thurgauer Unternehmen nach neuen Mitarbeitenden. Jedes Zweite bietet Lehrstellen an, wie die TKB-Firmenkundenumfrage 2025 zeigt. Die überwältigende Mehrheit von 94 Prozent der befragten Ausbildungsbetriebe tut dies, weil sie in Zukunft qualifizierte Fachkräfte brauchen. Und wo die Not am grössten ist, finden sich besonders viele tugendliche Lehrbetriebe: In der vom Arbeitskräftemangel geplagten Baubranche ist der Anteil an Ausbildungsbetrieben am höchsten.
Auszubilden bindet Ressourcen
85 Prozent der Betriebe mit über 50 Mitarbeitenden bieten Lehrstellen an, während dies bei kleinen Unternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitenden nur jede Fünfte tut. Letztere kämpfen nicht etwa mit zu wenigen Bewerbungen. Grund für diesen «Grössen-Graben» sind vielmehr die Anforderungen eines strikten Bildungsplans oder Bedenken, dass etwaige Probleme mit Lernenden das Team zu sehr belasten könnten. Über 60 Prozent der nichtausbildenden Unternehmen geben an, dass ihnen für ein Ausbildungsangebot schlicht die personellen Kapazitäten fehlen.
«Grössen-Graben» bei Lehrstellenangebot
Anteil der Betriebe, die Lehrstellen anbieten, nach Firmengrösse
Kleinstbetriebe, die erfolgreich Lehrstellen anbieten, fahren häufig mit dem Grundsatz «Qualität statt Quantität». Sie konzentrieren sich auf wenige Auszubildende, die durch sorgfältige Auswahl und intensive Betreuung erfahrener Fachkräfte gefördert und gefordert werden. Überhaupt scheint dies der Schlüssel zu sein, um im Wettbewerb um Auszubildende zu punkten: Für drei von vier Ausbildungsbetrieben sind abwechslungsreiche Tätigkeiten und Projekte sowie die persönliche Betreuung ausschlaggebend für eine attraktive Lehrstelle. Die Jugendlichen suchten viel mehr Sinnhaftigkeit und Entwicklungspotenzial als Materielles, so die Rückmeldung der befragten Unternehmen. Zusatzleistungen wie kostenlose ÖV-Tickets oder Fitness-Abos (7 Prozent) und finanzielle Anreize wie Boni oder Beteiligungen (5 Prozent) spielen hingegen kaum eine Rolle.
Gesellschaftliche Verantwortung und Investition in die Zukunft
Wer in die Berufsbildung investiert, sichert sich nicht nur Nachwuchstalente für heute, sondern bildet im Idealfall die Fachkräfte von morgen aus. Jungen Menschen den Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen, geht jedoch über die reine Personalstrategie hinaus: Es ist ein Zeichen unternehmerischer Verantwortung. Drei von fünf Unternehmen betrachten ihr Engagement in der Berufsbildung als wichtigen Teil zur gesellschaftlichen Verantwortung. Finanzielle Überlegungen oder die Ansicht, Lernende seien günstige Arbeitskräfte, spielen dagegen praktisch keine Rolle.
Fokus auf Fachkräfte
Zustimmung zur Aussage «Wir bieten in unserem Unternehmen vor allem deshalb Lehrstellen an, weil…
(maximal 3 Nennungen aus einer Auswahl von 8 potenziellen Herausforderungen möglich)
Rekrutierung bleibt eine Herausforderung
Im vergangenen Jahr blieben im Thurgau gemäss Zahlen des Amts für Berufsbildung und Berufsberatung über 500 Lehrstellen unbesetzt. Die Hälfte der befragten Ausbildungsbetriebe gibt an, grössere Schwierigkeiten bei der Suche nach geeigneten Auszubildenden zu haben. Dem Baugewerbe und der Industrie fällt es etwas schwerer als Dienstleistungsbetrieben und Handelsunternehmen.
Zu den grössten Herausforderungen bei der Rekrutierung gehört der Mangel an Bewerbungen, insbesondere im Bau und in der Industrie. Tatsächlich treffen insgesamt weniger Schulabschlüsse auf ein anhaltend grosses Lehrstellenangebot. Mittelfristig wird die Anzahl der 16-Jährigen gemäss Referenzszenario des Bundes wieder leicht steigen. Im Thurgau entscheiden sich weniger Jugendliche für den gymnasialen Bildungsweg als in anderen Teilen der Schweiz: Vier von fünf Schülerinnen und Schülern im Kanton schlagen den Weg der Berufsbildung ein. Im Schweizer Durchschnitt liegt dieser Anteil deutlich tiefer.
Berufsbildung im Kanton Thurgau sehr beliebt
Anteil der unter 20-jährigen Schüler/-innen im ersten Ausbildungsjahr einer beruflichen Grundausbildung oder Anlehre
Offene Lehrstellen trotz unsicherer Zukunftspläne
Selbst wenn Unternehmen eine ausreichende Anzahl Bewerbungen auf dem Tisch liegen hätten, hiesse dies noch nicht, dass es mit der Lehrstellenbesetzung funktioniert. Ungenügende schulische Leistungen erachten die befragten Ausbildungsbetriebe als die grösste Herausforderung bei der Rekrutierung geeigneter Auszubildender. Gemäss Zahlen des Amts für Berufsbildung und Berufsberatung des Kantons Thurgau planten im Sommer 2024 rund 350 Jugendliche im Thurgau, nach der obligatorischen Schulzeit ein Brücken- oder Übergangsangebot zu besuchen, während 80 von ihnen gar keine Lösung hatten.
Der Einfluss von Eltern und Lehrpersonen stellt für viele Thurgauer Unternehmen eine weitere Herausforderung dar. Besonders in der Baubranche wird die Rolle der Eltern kritisch wahrgenommen. Deren Erwartungen und Vorstellungen bei der Berufswahl werden hier häufiger als «grosse Herausforderung» genannt (42 Prozent) als in anderen Wirtschaftszweigen.
Schulische Leistungen, Eltern und Lehrer fordern heraus
Herausforderungen bei der Rekrutierung von geeigneten Bewerberinnen und Bewerbern
Nach der Lehre: Talente binden
Oft endet das Anstellungsverhältnis nicht mit dem Lehrabschluss. Im Schnitt schaffen es die Unternehmen in 42 Prozent der Fälle, die Lehrabsolventinnen und -absolventen im Betrieb zu halten. Wie gelingt dies? Auch hier gilt: Sinnhaftigkeit vor Statussymbolen. Betriebe versuchen insbesondere mit spannenden Aufgaben (61 Prozent) und klaren Entwicklungsperspektiven wie Weiterbildungsmöglichkeiten (50 Prozent), die Ausgebildeten im Betrieb zu halten. Ein attraktives Gehalt (25 Prozent) oder zusätzliche finanzielle Anreize (3 Prozent) werden deutlich weniger oft genannt.
Aus der «Not eine Tugend zu machen», heisst also, jungen Talenten Sinnhaftigkeit und Entwicklungsperspektiven zu bieten. Wer nicht nur ausbildet, sondern auch gezielt bindet, sichert sich sowohl Fachkräfte als auch Zukunft – und hält damit im besten Fall die (Personal-)Not fern.
Verwendete Daten
Die für den Text verwendeten Daten stammen, sofern nichts anderes erwähnt, aus der jährlichen Wirtschaftsumfrage der TKB bei Thurgauer Unternehmen. Sie reflektieren ein nicht repräsentatives Spiegelbild der wirtschaftlichen Entwicklung im Kanton Thurgau.
Der Artikel wurde durch die IHK St.Gallen-Appenzell in Zusammenarbeit mit der Thurgauer Kantonalbank erstellt. Die Onlinepublikation wird auf der TKB-Webseite veröffentlicht und kann als Newsletter abonniert werden: Newsletter Wirtschaft Thurgau