«Wenn wir so weitermachen wie bisher, ist ein Fünftel der deutschen Industrie akut gefährdet.» Mit diesen alarmierenden Worten wandte sich Siegfried Russwurm kürzlich in der ZDF-Sendung «Berlin direkt» an die deutsche Politik und Öffentlichkeit. Die Worte haben Gewicht: Russwurm präsidiert den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der 39 Branchenverbände und mehr als 100’000 Unternehmen mit rund 8 Millionen Beschäftigten vereint. Seine Aussagen stützt Russwurm auf eine kürzlich veröffentlichte Studie des BDI.
«Geschäftsmodell Deutschland» herausgefordert
Tatsächlich stockt das «Geschäftsmodell Deutschland». Die Wertschöpfung in der Industrie stagniert seit der Covid-Pandemie (vgl. Grafik). 2023 schrumpfte Deutschland als einzige der fünfzehn grössten Volkswirtschaften. Auch im laufenden Jahr bleibt das Land gemäss Prognose des Internationalen Währungsfonds das Schlusslicht unter den Industrieländern. Die Gründe sind sowohl konjunktureller als auch struktureller Natur. «Wir haben die teuersten Energiekosten, die wahrscheinlich bestausgeprägte Bürokratie, und ein Drittel höhere Unternehmenssteuern als der europäische Durchschnitt», analysiert Russwurm kritisch. Hinzu kommen steigende Löhne, kürzere Arbeitszeiten und politische Unsicherheiten. Kurzum: Die Zeiten von tiefen Produktionskosten als Basis des Geschäftsmodells Deutschland sind vorbei. Laut der BDI-Studie sind bis 2030 Investitionen in Höhe von 1,4 Billionen Euro nötig, um durch umfassende Massnahmen in Bereichen wie Infrastruktur, Bildung, Digitalisierung und grünen Technologien eine Trendwende einzuleiten.
Grafik: Deutsche Industrie stagniert, während Schweizer Industrie wächst
Wertschöpfung, saison- und preisbereinigt, Index 2015 = 100
Quelle: Seco, Destatis, eigene Berechnungen
Thurgauer Industrie stark verflochten
Auch die Thurgauer Wirtschaft spürt die schleppende Entwicklung in Deutschland. Knapp ein Drittel der Thurgauer Warenexporte geht nach Deutschland, das damit klar wichtigster ausländischer Zielmarkt ist (vgl. Grafik). Zum Vergleich: Schweizweit beträgt der Exportanteil nach Deutschland nur gerade 16 Prozent. Der Grund für die starke Verflechtung liegt einerseits in der geografischen Nähe, andererseits in der Branchenstruktur. Insbesondere wertschöpfungsstarke Produkte wie Maschinen, elektrische Ausrüstungen, Datenverarbeitungsgeräte sowie elektronische und optische Erzeugnisse werden nach Deutschland ausgeführt. Entsprechend wachsam beobachten die Thurgauer Unternehmen die Entwicklung im Nachbarland.
Grafik: Deutschland mit Abstand wichtigster Exportmarkt
Warenexporte der Thurgauer Wirtschaft nach Zielmärkten, 2023, Anteile in Prozent
Insgesamt exportierte der Kanton Thurgau im vergangenen Jahr Waren im Wert von 4,1 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Die Wirtschaftleistung beträgt rund 19,3 Milliarden Franken (BIP 2021).
Quelle: Dienststelle für Statistik Kanton TG, BAZG
Diversifikation lohnt sich
Eines dieser Unternehmen ist die Serto AG mit Hauptsitz in Frauenfeld. Der Spezialist für Rohrverbindungstechnik erzielt rund vier Fünftel seines Umsatzes im Ausland, die Hälfte davon in Deutschland. Wichtige Abnehmer finden sich in der Medizintechnik, der Halbleiterindustrie und in der Bahntechnik. So produziert Serto mit seinen rund 300 Mitarbeitenden beispielsweise Gasleitungssysteme für die Herstellung von Smartphone-Displays. «Wir profitieren derzeit davon, dass wir breit aufgestellt sind», erklärt Norbert Kern, Chief Technology Officer und Geschäftsleitungsmitglied bei der Serto-Gruppe. Denn nicht in allen Industriezweigen harzt es. Gerade die Halbleiterindustrie schaue zuversichtlich in die Zukunft, die Chipnachfrage sei langfristig robust. Für andere Zweige bestätigt Kern jedoch das Bild. Viele mittelständische Zulieferer hätten zu kämpfen.
Zeit für neue Absatzmärkte?
Stellt sich die Frage: Wie geht die Thurgauer Industrie strategisch mit dieser Situation um? Die Serto AG zum Beispiel reduziert ihr Klumpenrisiko und setzt auf eine Osterweiterung nach Polen und Tschechien sowie eine Internationalisierung mit Fokus auf China und Indien. Damit ist die Serto AG nicht allein: 30 Prozent der Thurgauer Industrieunternehmen verorten Wachstumspotenzial in der Erschliessung neuer Märkte. Das zeigt die jährliche Umfrage der TKB bei Thurgauer Unternehmen.
«Glauben an die deutsche Industrie»
Also eine Abkehr von Deutschland? Mitnichten, wie Norbert Kern betont. Deutschland sei und bleibe wichtigster Absatzmarkt. Kern zeigt sich überzeugt: «Deutschland kann und wird sich neu erfinden. Die Ingenieurskunst ist tief verankert.» Die Serto AG sieht weiterhin ein grosses Potenzial, baut gar ihr deutsches Vertriebsnetz aus. Der Schlüssel für eine erfolgreiche Marktpositionierung liege in der Innovationsfähigkeit, der Wertschöpfungstiefe und der Kundennähe. «Früher verkauften wir Verschraubungen, heute bieten wir individuelle Lösungspakete an», so Kern. Angesprochen auf die Alarmsignale des BDI-Präsidenten Russwurm, sagt Kern abschliessend: «Ein Weckruf ist angebracht. Aber wir glauben an die deutsche Industrie.»
Welche Bedeutung hat der Absatzmarkt Deutschland für Ihr Unternehmen künftig?
Dieser Artikel wurde durch die IHK St.Gallen-Appenzell in Zusammenarbeit mit der Thurgauer Kantonalbank erstellt. Die Onlinepublikation wird auf der TKB-Webseite veröffentlicht und kann als Newsletter abonniert werden: Newsletter Wirtschaft Thurgau